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Alltägliches!

Es war eine sternklare Nacht und der Vollmond leuchtete hell am Sternenhimmel, während ich durch den dunklen Wald ging. Ich war mit meinem Buch am See eingeschlafen und eine Eule hatte mich aufgeweckt. Ich war hoch geschreckt und hatte das Buch fallen lassen, es ging in dem Buch um Jack O`Latern. Kein Wunder also, dass mir der Wald Angst machte und auch die Eule, die mich aufgeweckt hatte, jagte mir nun höllische Furcht ein. Es war wirklich unangenehm, ich ging nachts durch den Wald, hatte zuvor ein gruseliges Buch gelesen und eine Eule stieß ihre durchdringenden Rufe aus.
Doch plötzlich hörte ich einen leisen Schrei. Er fuhr mir durch Mark und Bein. Ich wusste nicht warum, aber ich folgte dem Schrei. Er führte mich zur Half-Pipe, der einzig interessanten Einrichtung unseres langweiligen Dörfchens. Ich versteckte mich hinter einem Baum auf der kleinen Anhöhe und sah hinunter. Dank dem Mond konnte ich alles beobachten. Da unten war ein kleiner türkischer Junge und um ihn herum ein paar halbwüchsige Burschen. Ich konnte sie sofort als Skater identifizieren, sie hatten ein Skateboard und Inline-Skates dabei und ihr Look war unverkennbar. Der kleine Junge zitterte. Sie schrieen wild auf ihn ein und mit jedem Wort wurde sein Blick ängstlicher und seine Augen größer. Plötzlich hielt ihn einer hoch und schlug ihn mitten ins Gesicht. Dem Kleinen tropfte das Blut aus der Nase, sie brüllten ihn wieder an, er gab keine Antwort und der größte der Burschen boxte ihn heftig in den Bauch. Der Kleine verzerrte das Gesicht vor Schmerz. Ich kauerte hinter dem Baum und überlegte fieberhaft, was ich tun sollte.
Schlagartig kam mir eine Idee: Ich nahm mein Handy heraus und rief die Polizei an, schilderte, was geschehen war und erzählte ihnen von meinem Plan. Der mürrische Polizeibeamte wurde immer interessierter. Warum, wusste ich zu der Zeit noch nicht. Der Beamte sagte, er wäre in wenigen Minuten hier, denn er sei schon in der Nähe. Die brutalen Typen sahen sichtlich amüsiert aus, wahrscheinlich war das ihr Hobby. Ich sah, dass der Kleine schwer atmete und ich hielt es nicht mehr aus. Ich sprang hinter dem Baum hervor und schrie was ich konnte: „Hey! Macht es euch Spaß auf dem Kleinen herumzuhacken?“
Die Jugendlichen waren mehr als erschrocken, als sie eine dunkle Gestalt sahen. Doch als sie erkannten, dass ich ein Mädchen bin, waren sie sichtlich erleichtert. „Das beweist, dass ihr kleine Babys seid! Macht euch an dem Kleinen zu schaffen - wie jämmerlich! Zeigt, was ihr könnt, ihr hässlichen, gestörten Angsthasen! Los, was ist?“
Tatsächlich, sie fingen an zu rennen, doch auch ich war schon los gerannt. Ich hatte es für den Kleinen getan. Meine größte Sorge war, ob ich es aushalten würde, so lang zu laufen. Der Wald war schon fast zu Ende und die Jungs waren dicht hinter mir. Jetzt legte ich einen wahren Endspurt ein. Ich konnte nur hoffen, dass der Polizist schon da war. Als ich aus dem Wald draußen war, wandte ich mich um und sah, dass die Falle schon zugeschnappt war. Die Polizei hatte bereits eingegriffen.
Wie aus dem Nichts war plötzlich ein Notarzt aufgetaucht. Ich packte ihn an der Hand und zerrte ihn mit mir mit in den Wald zur Half-Pipe. Der kleine Junge lag am Boden. Ich hob ihn vorsichtig auf und er wimmerte leise: „Die Half-Pipe ist an allem schuld…“
Zwei Tage später besuchte ich den kleinen Mehmed im Krankenhaus. Er erzählte mir, dass die Burschen ihn überfallen hatten, weil er Türke war und nicht gefragt hatte, ob er auf der Half-Pipe skaten dürfe.
So ist das in unserem Dorf nahe einer bekannten Landeshauptstadt. Dennoch hätte ich nie gedacht, dass ich selbst so kurze Zeit nach diesem Vorfall ebenfalls zur Zielscheibe der Gewalt werden könnte:
„Hey, Süße! Wohin so eilig?“, schreit mir ein komischer Typ nach. Ich zucke zusammen, es ist jeden Tag das Gleiche. Aber seit heute reagiere ich allergisch auf solche Typen. Eigentlich war mir noch nie so bewusst aufgefallen, was das für eine raue Gegend war, wo ich leider immer noch leben muss. Auf den Straßen liegen stets Bier-, Wodka-, Martini- und Weinflaschen, die hoffnungsvollen Verzierungen unseres Dorfes. Von irgendwelchen Ecken schreit einem immer jemand nach, all das bin ich gewohnt.
Aber heute…
Ich bog in eine dunkle Seitenstraße, weil ich schon spät dran war und diese Straße eine Abkürzung war. Normalerweise war kein Mensch in dieser Straße, doch an diesem Tag war es anders. Ein Mann kam die Straße entlang. Er war groß und muskulös, mehr konnte ich nicht erkennen. Aber den Geruch von Alkohol konnte ich schon riechen, bevor ich ihn nur sah.
„Hallo Kleines! Allein unterwegs? Das ist aber eine gefährliche Straße, nichts für kleine Mädchen!“, sagte er, als ich an ihm vorbei wollte und er versperrte mir den Weg. „Ich kann gut auf mich aufpassen und mit 13 weiß ich, wo ich hin darf und wo nicht! Lassen Sie mich bitte vorbei!“
Doch er dachte nicht im Traum daran. „Soll ich dir vielleicht helfen? Nein, ich weiß was Besseres. Soll ich dir was zeigen? Was ganz Tolles, mein Kleines?“ Er drückte mich gegen die Wand und der Geruch von billigem Fusel stieg mir in die Nase. Ich wehrte mich, aber sein Griff war zu fest für mich. Plötzlich schrie er auf, irgendjemand zerrte ihn von mir weg. Ich lief davon, so schnell mich meine Beine trugen. Ich sah mich für einen kurzen Moment um und glaubte einen großen schlanken Jungen mit blonden Haaren zu erkennen. Ich rannte, was ich konnte, die Angst saß mir eiskalt im Nacken. So etwas war mir noch nie passiert.
Völlig außer Atem erreichte ich mit letzter Kraft die rettende Haustür. Erst als ich den Schlüssel mehrmals drübergedreht hatte, konnte ich aufatmen.
Schade finde ich bloß, dass ich meinem unbekannten Retter nicht danken kann…

Jennifer Wiener